“Quartett” im Theater Reutlingen Die Tonne, gesehen von Mike Sperber am 5.5.2011

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Quartett ist zwar Heiner Müllers meistgespieltes Stück, aber dennoch schwierig zu inszenieren: Die langen, hermetischen Textpassagen sind eher Monologe als natürliche Bestandteile eines dramatischen Dialogs. Eine dramatische Handlung zum Text zu finden ist deshalb eine besondere Herausforderung für die Regie.

Die Tonne hat sich trotzdem drangewagt; bei der Premiere gab es viel Licht aber auch etwas Schatten zu sehen.

Zum Stück: Heiner Müller hat die Gefährlichen Liebschaften von de Laclos adaptiert. (Bekannt aus dem Stephen-Frears-Film mit Overactor Malkovich.) Allerdings treten bei ihm nur Valmont (der Verführer) und Merteuil (die Strategin des Geschlechterkampfs) auf, und sie müssen nicht nur mit dem Vorabend der Französischen Revolution fertigwerden sondern auch mit dem “Bunker nach dem 3. Weltkrieg”, in dem sie sich ebenfalls befinden. Im Stück kommen noch die tugendhafte Tourvel und die jugendlich-zarte Cécile de Volanges vor, aber in Müllers Welt ist nach dem 3. Weltkrieg niemand sonst mehr da. Valmont und Merteuil müssen in perversen Rollenspielen die beiden anderen nachäffen. Die Dekadenz des Originals ist bei Müller der nackten Verzweiflung darüber gewichen, keine menschliche Nähe empfinden zu können.

Das Problem der dramatischen Handlung hat Regisseurin Anke Bußmann clever gelöst: Anstatt daß Ihre Schauspieler – Nils Torpus und Eric van der Zwaag als Valmont und Merteuil zu sehen sind, spielen sie offenkundig zwei Schauspieler, die für das eigentliche Stück “Quartett” in diesen Rollen besetzt sind. Damit kann Bußmann die dramatische Handlung vom Text lösen und erhält die nötigen Freiheiten, um die Inszenierung variationsreich und dramatisch zu gestalten.

Die Situation der Schauspieler spiegelt die von Valmont und Merteuil nach dem dritten Weltkrieg: Die beiden Schauspieler befinden sich in einem heruntergekommenen Wartezimmer (das von Simone Manthey entworfene Bühnenbild sieht wie manche Theatergarderobe aus), in dem schon länger niemand mehr geputzt wurde und die Konsumgüter langsam zur Neige gehen.

Immerhin gibt es noch eine Videokamera (ein Muß im modernen Theater), einen Fernseher, eine PlayStation und einen riesigen Vorrat an Zigarren. Die Schauspieler gehen den Text für das Stück nochmals durch, aber die Aufführung dazu ist auf unbestimmte Zeit verschoben: Der Textdurchlauf ist der n-te einer langen Reihe in die Unendlichkeit. Ob Merteuil von vornherein durch einen Mann besetzt wurde oder die Originalbesetzung ersetzt wurde, ist unklar, aber auch nicht wichtig. Genau wie Merteuil und Valmont haben die beiden das Problem, sich die Zeit zu vertreiben. Sie versuchen sich eine Zigarre anzustecken, aber die Feuerzeuge sind alle leer. (Ein Echo auf Gabriele Gysis Inszenierung aus Bielefeld, das vor vielen Jahren in Tübingen zu Gast war: Ihre Figuren suchten auch ständig vergeblich nach “Feuer”.) Nostalgische Lieder, Filme und Videos (“You’ve Lost That Loving Feeling”, “Highlander”, Jacques Brel, “Der König der Löwen”) aus der PlayStation fungieren als schwache Schatten menschlicher Wärme. Oft fällt den beiden nichts besseres ein, als zu masturbieren oder zu versuchen, dem anderen einen zu blasen: Einzig ist der mentale Verfall schon so weit fortgeschritten, daß auch dies vergebliche Versuche bleiben. Schließlich spielen sie “Personen raten” mit PostIt-Zetteln (und auch das nicht zum ersten Mal), was sie schließlich auf den Gedanken der vertauschten Rollen bringt. Hierdurch wird ihnen endgültig der innere, leere Abgrund gewahr. Der bestellte Pizzabote kommt und kommt einfach nicht.

Die veränderte Ausgangssituation der Inszenierung macht zwar interessantes und abwechslungsreiches Theater, ist aber auch gleichzeitig ihr größtes Problem: Die Schauspieler-Charaktere haben situationsgemäß meist mit Langeweile zu kämpfen. Das ist psychologisch zwar richtig (und von den beiden tollen Schauspielern immer überzeugend umgesetzt), aber es entstehen große Pausen, in denen die Spannung im Publikum (weniger als 40 Leute, davon die meisten erkennbar persönliche Freunde der Tonne – deprimierend) merklich abfiel. Auch die x-te Einspielung von Müllers O-Ton-Erläuterungen zum Stück verdeutlicht zwar die hoffnungslose Wartesituation der Figuren, aber ist irgendwann einfach nicht mehr interessant. Die typische Quartett-Inszenierung kommt mit 75-90 Minuten aus – der Reutlinger Abend war zwar im Programmheft mit 90 Minuten angekündigt, aber dann erst nach zwei Stunden vorbei: 30 Minuten Luft waren locker drin und die Tonne täte gut daran, diese für die weiteren Aufführungen noch herauszulassen. Dann wäre es ein durchgängig packender Abend.

Am Ende kommt der Pizzabote – schon totgeglaubt – doch noch: Gespielt vom Raoul Muck, dem Regieassistenten, wahrlich ein symbolträchtiger Auftritt.